Das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung

16.10.2006

Das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung

Von: Rainer Rothe, Rechtsanwalt, Radolfzell

Die weltweiten Proteste gegen die völkerrechtswidrigen und menschenverachtenden Kriege halten an. Das Recht geht vom Volk aus – weltweit. Das Völkerrecht ist das Recht der Völker. Sie und nicht die Herrscher, Diktatoren und Kriegsverbrecher dieser Welt bestimmen, was Recht und Unrecht ist. Das Gewissen der Menschen ist der Gerichtshof der Menschheit. Dieses Fundament gehört den Menschen. Das Völkerrecht hat uneingeschränkte Geltung. Rechtsbruch durch Kriegsverbrecher schafft weder das geltende Völkerrecht ab noch neues. Was Recht ist, bestimmen die Menschen und Völker; nicht die Kriegsverbrecher.

Neben dem Verbot der Gewaltanwendung (Angriffskrieg) gehören zu den wesentlichen unveränderlichen und unaufhebbaren Rechten der Völker, deren in Art. 1 Nr. 2 und Art. 55 UN-Charta, der Resolution 1514 (XV) der UN-Generalversammlung sowie in den gleichlautenden Art. 1 der beiden Menschenrechtspakte von 19.12.1966 und gewohnheitsrechtlich anerkanntes Recht auf Selbstbestimmung, Achtung ihres Territoriums und Sicherung ihrer eigenen Existenz als Volk. So heisst es z.B. in Art. 1 Abs.1 des Interantionalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte: «Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.»

Durch einen Krieg – zumal einen völkerrechtswidrigen – werden diese Rechte nicht aufgehoben. Vielmehr wird selbst die De-facto-Gewalt der kriegerischen Besatzungsmacht durch eine Reihe von völkerrechtlichen Regelungen (u.a. IV. Genfer Abkommen zum Schutze der Zivilpersonen in Kriegszeiten Art. 27ff. sowie den Zusatzprotokollen) begrenzt und ihnen zahlreiche Schutzpflichten auferlegt, wie das Verbot der Annektion, die Verantwortung für die Wohlfahrt der Einwohner und Einrichtungen, Sorge für geordnete Lebensbedingungen, Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und medizinischen Dienstleistungen, Belassen der alten intakten Rechtsordnung, Beachtung der Grund- und Menschenrechte, Verbot von Transfer, Deportation und Vertreibung, Respektierung des Privateigentums, Verbot der Konfiszierung. Es besteht auch kein Zwang der Bevölkerung zu Loyalität und Gehorsam gegenüber den Besetzern. Insgesamt ist die Besetzung in jedem Fall so schnell wie möglich zu beenden und dem Volk sein Selbstbestimmungsrecht wieder zu gewähren.

Eine freiheitliche Verfassung kann nur wirken, wenn keine Widerstände bestehen, insbesondere keine fremdherrschaftlichen oder despotischen, entgegenstehen[1].

Das völkerrechtliche Prinzip der ständigen Freiwilligkeit der Völker bedeutet, dass jedes Volk jederzeit seine Angelegenheiten selbst entscheiden und regeln kann[2].

Wesentlicher Bestandteil des Selbstbestimmungsrechtes ist es zudem, dass das afghanische Volk – wie jedes andere Volk – über seine Bodenschätze, deren Förderung, Nutzung, Verkauf, den Bau von Pipelines etc. zu jeder Zeit selbst bestimmt. So heisst es in Art. 1 Abs. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte: «Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.»

Wir rufen die Verurteilung der USA wegen Verletzung des Völkerrechts durch den Internationalen Gerichtshofs in dem Verfahren Nicaragua vs. United States of America, Urteil des IGH vom 27. Juni 1986, I.C.J. Reports 1986, S. 14 ff. in Erinnerung. Damals wurde festgestellt, dass die Massnahmen der USA, mit welchen sie das Selbstbestimmungsrecht des nicaraguianischen Volkes durch Intervention und Unterstützung von Rebellen massiv verletzen, völkerrechtswidrig waren.

Die Menschheit ist nur dann menschlich / human, wenn sie den Menschen auch tatsächlich die Ausübung des freien Willens der Bürger in einer Volksgruppe und in einem von ihnen frei gewählten Staatsgebiet, gemeinsam ihren Willen als Gruppe auszuüben, ihre Zusammengehörigkeit zu schützen und ihre Eigenart respektiert zu sehen sowie dabei ihre Besonderheiten zu erhalten, gewährleistet. Das sind die Voraussetzungen des aufgrund der schrecklichen Erfahrungen nach dem zweiten Weltkrieg auch rechtlich als Grundsatz des universalen Völkerrechts anerkannten Selbstbestimmungsrechts der Völker. Dadurch erlangen die Staaten der Völker ihre Souveränität und ihre freiheitliche Demokratie. Auch eine Teilung der Souveränität oder eine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf einzelne Fragen widerspricht dem Prinzip souveräner Staaten und der Autonomie des Willens und damit der Freiheit des Menschen.

„Drittstaaten sollten aber auch bedenken, dass „ein Staat, der einem anderen Staat bei der Begehung völkerrechtswidriger Handlungen Beihilfe leistet oder Unterstützung gewährt“, dafür völkerrechtlich verantwortlich ist (so Artikel 16 der von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen angenommen Artikel über „Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen“, Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12. Dezember 2001 – A/RES/56/83). Die Nichtsuspendierung bestehender und erst recht die Einräumung von Überflugs- oder Transitrechten sowie sonstige Unterstützungsleistungen zugunsten der Interventionsmächte sind ebenfalls völkerrechtswidrige Handlungen. Die Türkei hat durch die Nichtgewährung der von den Vereinigten Staaten gewünschten Transitrechte [Irak Krieg 2003] eine völkerrechtswidrige Beihilfe verweigert.

Die Interventionsmächte haben mit dem „Militärschlag“ gegen den Irak überdies den Tatbestand der Aggression erfüllt, der in der Generalversammlungs-Resolution von 1974 definiert worden ist. Nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 gehört Aggression zu den „schwersten Verrechen“,(…)“

Theodor Schweisfurth, Agression in: Kai Ambos/ Jörg Arnold (Hrsg.), Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, 2004, Seite 359 ff., 362.

„Das Recht auf die Heimat gehört zu jenen fundamentalen Menschenrechten wie das Recht auf Leben, welche den Genuß der anderen Rechte erst ermöglichen. Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er eine Beziehung zu seiner unmittelbaren Umwelt entwickelt; es gehört zu den wesentlichen Merkmalen der Zivilisation und damit des Rechts, dass diese Beziehung durch fördernde Rechtsnormen sowie auch Verbote geschützt wird. Das Recht auf die Heimat ist der Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses nach Familiengründung, Behausung, Sesshaftigkeit und stellt eine Voraussetzung für die Entwicklung der Identität und der Kultur dar.“
Alfred M. de Zayas, Heimatrecht ist Menschenrecht, 2001, Seite 39

Auszug aus der UN-Charta zum Prinzip des Selbstbestimmung der Völker:

Art. 1 Nr. 2:
„Die Vereinen Nationen setzen sich folgende Ziele:
(…)
2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung zwischen der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;
(…)“

Art. 55
„Um jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche und freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen herrschen, fördern die Vereinten Nationen

a) die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und die Voraussetzungen für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und Aufstieg;
b) die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art sowie die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur und der Erziehung;
c) die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion.“

Art. 56
„Alle Mietgliedstaaten verpflichten sich, gemeinsam und jeder für sich mit der Organisation zusammenzuarbeiten, um die in Art. 55 dargelegten Ziele zu erreichen
(…)“.

 


[1] K.a: Schachtschneider, ebenda.

[2] K.A. Schachtschneider, u.a., Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, 751ff.; K.A.Schachtschneider, „Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union“, in: Schachtschneider/Blomeyer (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, Bd. 1, 1995, 75ff., 101).

Achse der Logik 2006
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